Darm und Psyche

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Darm und Psyche: Wie Darm und Hirn miteinander kommunizieren

Interview mit Prof. Dr. Paul Enck

Paul Enck ist Professor für medizinische Psychologie und war bis vor kurzem Forschungsleiter der Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Universitätsklinikum Tübingen. Er hat sich in mehr als dreißig Jahren mit Grundlagenforschung zu dem Thema beschäftigt, wie Gehirn und Darm interagieren. Und welche Auswirkungen dies für Körper und Seele hat.

Was macht das Gehirn mit dem Darm?

Paul Enck Wir wissen, dass unter Stressbelastung – zumindest bei einigen Menschen – der Darm relativ schnell reagiert. Zum Beispiel, wenn die Kamera läuft und die Aufzeichnung viele Leute anschauen können. Bei manchen macht es, scheint es, nur ganz wenig aus, und das hat etwas damit zu tun, wie empfindlich oder weniger empfindlich der oder die Betreffende auf Stress reagiert. Der Darm ist dabei sozusagen unser Stressorgan. Das heißt, es gibt Menschen, die sehr stark mit dem Darm reagieren, und andere, die gar nicht mit dem Darm reagieren. Prüfungsstress beispielsweise führt bei vielen zu Durchfall, Vortragsstress bei manchen zu Durchfall, wahrscheinlich bei einigen mehr als bei Prüfungen. Der Darm ist im Prinzip ein Stressorgan, das auf Belastung des Gehirns reagiert, positiv wie negativ. Das ist das, was seit Langem bekannt ist.

Welche neueren Erkenntnisse gibt es in der Darm-Gehirn-Forschung?

Paul Enck Nicht so lange bekannt ist, dass der Darm auch auf sehr subtile Veränderungen des Gehirns reagiert. Also wenn wir beispielsweise Freude empfinden oder über Essen zum Beispiel unsere Hirnfunktion beeinflussen, dass wir auch da Funktionen des Darms verändert finden können. Und dieser Teil ist sicherlich mehr Grundlagenforschung, da wissen wir noch nicht so wahnsinnig viel, aber auch da lernen wir jeden Tag dazu, dass der Darm nicht nur ein Reaktionsorgan ist, sondern dass er möglicherweise auch an anderen Funktionen, beispielsweise an Verdauungsfunktionen mit dem Gehirn kommuniziert.

Was sendet der Darm ans Gehirn?

Paul Enck Und das bringt uns zu der Frage, was der Darm eigentlich mit dem Gehirn kommuniziert. Das ist etwas, was wir in den letzten zehn, fünfzehn Jahren gelernt haben, dass der Darm all die Prozesse, die im Darm bei der Verdauung stattfinden, also bei Nahrungsaufnahme, Verdauung und Nahrungsausscheidung, ans Gehirn weiterleitet, dass das Gehirn also permanent Informationen aus dem Darm bekommt und dann entscheiden muss: Ist das jetzt wichtig? Ist das etwas, was ich ernstnehmen muss? Ist das etwas, was ich gleich wieder vergessen kann, weil im Darm alles in Ordnung ist? Und dieser Prozess, der ist relativ neu, da sprechen wir von afferenten, also aufsteigenden Informationen aus dem Darm zum Gehirn, zum ZNS, dem zentralen Nervensystem. Und das ist etwas, was seit einiger Zeit im Fokus der Forschung steht, nämlich die Frage, wie das Gehirn Informationen aus dem Darm verarbeitet.

Wie kommen Informationen vom Darm in das Gehirn?

Paul Enck Für diese Interaktion, für diese Informationsverarbeitung von Darminformationen ins Gehirn, also den aufsteigenden Informationen, hat die Biologie mehrere Systeme bereitgestellt. Das eine sind nervale Systeme, also Nervenverbindungen zwischen Darm und Gehirn, die dafür aktiviert werden, wenn beispielsweise Schmerz im Darm appliziert, verabreicht wird oder auftritt, dann wird das im Gehirn gemerkt. Wenn die Reize niederschwellig sind, dann werden die Informationen verworfen. Aber im Prinzip enthält ein Schmerzreiz aus dem Darm, also eine Kolik, gehirnwichtige Informationen.

Es gibt aber auch hormonelle Systeme, die normalerweise etwas langsamer sind als die Nervensysteme, die beispielsweise an das Gehirn berichten, ob hier die Nahrung, die aufgenommen wurde, gut verträglich ist oder ob sie möglicherweise Toxine, Giftstoffe enthält. Dafür hat das System andere Bahnen zur Verfügung. Schließlich gibt es auch immunologische Systeme.

Der Darm ist ein riesengroßes Immunorgan, und auch das sendet den Zustand des Darms an das Gehirn zur Überprüfung. Und ganz zuletzt, also in den letzten zehn Jahren, haben wir gelernt, dass an diesem Prozess – die Ausnutzung dieser Bahnsysteme – sogar die Darmbakterien beteiligt sind, weil diese den Verdauungsprozess mit beeinflussen und deswegen natürlich die Zusammensetzung der Darmflora – oder des Darmmikrobioms – ebenfalls auf Gehirnfunktionen, auf Wahrnehmung und Verarbeitung von solchen Signalen, Einfluss nehmen kann.

Wie kann ich die Prozesse zwischen Darm und Gehirn beeinflussen?

Paul Enck Dazu gibt die Biologie eine Reihe von Möglichkeiten vor und die Psychologie spielt hier ebenfalls eine Rolle. Das eine ist: Alles, was im Darm passiert, sind Verdauungsvorgänge. Das heißt, über die Verdauung selbst kann ich natürlich diese Prozesse steuern. Was immer ich esse, hat einen Einfluss auf diese Funktion. Was immer ich aufnehme, um mich zu ernähren, nimmt damit auch automatisch an dem Verarbeitungsprozess im Gehirn teil. Das ist die eine Lehre, die relativ gesehen neu ist.

Der andere Teil sind die absteigenden Bahnen. Da wissen wir, dass zum Beispiel psychotherapeutische Verfahren, Psychotherapie im weitesten Sinne, zum Beispiel bei Patient:innen mit funktioneller Magen-Darm-Störung tatsächlich eine ausgesprochen positive Wirkung haben. Das ist nicht nur etwas, was den Darm beruhigt, sondern das greift in die Darmprozesse ein. Die Art und Weise, wie ich über Verdauungsprozesse denke, beeinflusst gleichzeitig die Verdauung selbst. Deswegen haben wir jetzt im Grunde genommen ein ganzes Repertoire an Möglichkeiten, diese Prozesse im Falle von Störungen des Systems, wenn beispielsweise Patient:innen wegen solcher Störungen in der Medizin Hilfe suchen, positiv zu beeinflussen. Wir haben sowohl zentralnervöse Interventionsmöglichkeiten und dazu zählen natürlich auch medikamentöse Möglichkeiten. Antidepressiva haben eine Wirkung auf den Darm.

Und dazu zählen natürlich alle Möglichkeiten der Veränderung der Darmfunktionen durch Ernährung, die wiederum ihrerseits das Gehirn verändern können. Ob das bei schweren gastrointestinalen oder psychischen Erkrankungen in allen Fällen dann wirksam ist, das werden im Einzelfall natürlich der behandelnde Arzt oder die Ärztin entscheiden müssen, oder wenn es um Grundlagenforschung geht, der untersuchende Wissenschaftler, die untersuchende Wissenschaftlerin.

Was können Sie als Psychologe Patient:innen empfehlen?

Paul Enck Ich denke, alle, die mit Darmbeschwerden zum Arzt gehen, sollten sich fragen, ob und in welchem Umfang psychische Probleme parallel zu den Darmproblemen vorhanden sind. Das betrifft Patient:innen, die das in aller Regel für sich ganz gut beantworten können. Und wenn diese es nicht beantworten können, betrifft es auch den behandelnden Arzt, die behandelnde Ärztin. Die sehen, ob ein Patient, eine Patientin unter psychischen Problemen parallel zu den Darmproblemen leidet. Und wenn das eine überwiegt, also wenn die psychische Problematik deutlich im Vordergrund steht, dann ist es spätestens Zeit, auch den Psychologen zu konsultieren und nicht das Ganze bei einer endoskopischen Untersuchung zu belassen.

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