Sängerknaben

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Vater von 4000: Gerhard Hellwig und die Schöneberger Sängerknaben

von Claudia Niessen

Die Schöneberger Sängerknaben sind untrennbar mit Berlin verbunden. ‚Jüngste Botschafter der Stadt’ nannte sie schon Ernst Reuter. In diesem Jahr feiert der Chor sein sechzig jähriges Bestehen. Chorgründer, Leiter und Förderer Gerhard Hellwig. ist gebürtiger Berliner, Musiker, Dirigent, Manager und Enthusiast. Seine Arbeit und das Engagement wurden vielfach gewürdigt und geehrt, zuletzt 2002 mit dem Bundesverdienstkreuz 1. Klasse.

„Mein Leben und mein Stolz“, das sind die Schöneberger Sängerknaben für ihn. „Meine Erfahrungen und die Liebe zur Musik will ich den Jungen mitgeben. Der Chor soll auch immer ein Stück Heimat für seine Mitglieder sein.“ Gerhard Hellwig hat inzwischen bald 4000 junge Menschen einen Lebensabschnitt lang begleitet. Sie haben gemeinsam die Welt bereist. Die Schöneberger Sängerknaben sind ein Markenzeichen Berlins geworden. Der 1925 geborene Gründer liebt es, die gemeinsame Geschichte zu erzählen. Dabei fing alles in der vom Zweiten Weltkrieg zerstörten Stadt an.

Chorgründer mit 22

1947 wusste der junge Gerhard Hellwig, was er wollte – einen Knabenchor gründen. Erste Anlaufstelle war der damalige Bürgermeister von Schöneberg Erich Wendland.

„Ich kam zu ihm und sagte, ich möchte die Schöneberger Sängerknaben gründen. Und ich wurde ernst genommen.“ Es erscheint ihm noch heute wie ein Wunder, dass er nicht ausgelacht wurde. Erich Wendland erwiderte schlicht: „Na denn mal los!“ Er engagierte sich für die Idee, ließ ein Rundschreiben an alle Schöneberger Schulen senden, in dem für Chormitglieder geworben wurde.

Auch der stellvertretende Bürgermeister Konrad Dickhardt ließ sich von der Idee begeistern. Er war es, der den Sängern die erste offizielle Chorkleidung stiftete. Mit dem Hilfswerk Berlin sollte die erste Chorreise nach Stuttgart, Mannheim und Heidelberg gehen.

„So könnt ihr nicht nach Stuttgart fahren“, sagte der damalige Stadtrat mit Blick auf die manchmal zerschlissene Zivilkleidung der Jungen. Konrad Dickhardt wurde mit der Zeit auch Mentor und Freund von Gerhard Hellwig.

Geprägt durch Elternhaus und Mozartchor

Hellwig hatte als Junge im Mozartchor gesungen und war musikalisch geprägt durch den Vater, der Musikdirektor in Straßburg gewesen war.

Er sang mit dem Chor im Rundfunk in der Masurenallee. Der Mozartchor war viel unterwegs in Europa. Die Jungen lernten auf diesen Reisen Menschen und Länder kennen. „Deshalb kann ich das, weil ich alles selbst erlebt habe.“

Ein Erlebnis im damaligen Jugoslawien ist bis heute unvergessen. „Wir waren in einem Privatquartier auf einem Bauernhof untergebracht, wir, die wir die Tiere nur aus dem Zoo kannten. Ein älterer Bauer kam auf uns zu und meinte: „Da kommen die Ehrlichen.“ Wir zwei Jungs wussten gar nicht, wie wir darauf reagieren sollten und fragten nach. Der Bauer erklärte, er habe in Deutschland gearbeitet. Da hätten die Menschen die Haustüren nicht abgeschlossen und die Fahrräder nicht angekettet. Das hätte er in Deutschland kennen gelernt.

Und so wurden wir auch zu Hause erzogen. Es wurde nichts angefasst oder mitgenommen, was einem nicht gehörte. Diese Werte habe ich weitergegeben. „Was mir nicht gehört, fass’ ich nicht an“, das sage ich noch heute den Jungen, wenn sie zu Orten und Menschen kommen, die ihnen fremd sind.“

Dem Vorwurf, der ihm daraufhin manchmal gemacht wird, er habe wohl keine Kinder, begegnet er gelassen. „Ich habe 4000 Kinder, auch ein eigenes.“

Sängerknaben 1947 und heute

Zwei Jahre nach Kriegsende sammelte Gerhard Hellwig seine Sänger gewissermaßen auf der Straße zusammen. „1947 – das war eine ganz andere Zeit und für heutige Kinder undenkbar. Gut so. Mögen die jungen Menschen das bloß nie erleben. Auch jetzt gibt es Familien, die unverschuldet in Armut leben. Damals war es eine andere Art sozialer Schwierigkeiten.

Es waren Kinder, deren Väter nicht zu Hause, sondern in Gefangenschaft oder tot waren. Das waren die ersten, die kamen. Ganz wenige lebten in geordneten Verhältnissen.“ Für die meisten ging es ums Überleben. Es wurde ‚gehamstert’ und keiner sprach damals von Diebstahl. „Es ist schwer, einem Jungen zu vermitteln, er dürfe nichts anfassen, was ihm nicht gehöre, wenn er abends mit Mutter und Oma die Kohlen von Güterwaggons am Priesterweg holte.“

Gerhard Hellwig sieht die damaligen Lebensumstände als prägend. „Die Zeit hat einen ganz anderen Typ Jungen hervorgebracht. So hieß auch unser erstes Lied ‚Berliner Jungens, die sind richtig. Berliner Jungs sind auf dem Kien!’ ‚Kien’ versteht jetzt kein Mensch mehr.

Wie würde man heute sagen ‚in Ordnung’ oder ‚dufte’? Alles lag noch in Trümmern. Einer hatte die Brosche von Muttern gerade im Spreewald gegen Kartoffeln eingetauscht. Sie kamen in Holzschuhen zur Probe.

Ich höre noch das Klappern. Im mitgeführten Wehrmachtsgeschirr transportierten sie ihr ‚Kotikow-Essen’, wenn wir im Ostsektor der Stadt auftraten. Alexander Kotikow war ein sowjetischer Stadtkommandant. Künstlern – und das waren wir – stand ein ‚Kotikow-Essen’ zu, meist Salzgemüse, na Mahlzeit!“

Andere Zeiten

Der Dirigent beschreibt die Nachkriegs-Sängerknaben als ‚hartgesottener’ oder ‚härter im Nehmen’. Heute sind es Disziplin, Pünktlichkeit und Ausdauer, die den jungen Sängern zu schaffen machen.

„Das sind Forderungen, die man stellen muss. Es ist aber auch eine Verpflichtung, die die Jungen als Sängerknaben haben. Anderthalb Stunden Stehen und ein- oder zweimal wöchentlich Probe ist für viele gewöhnungsbedürftig.

Ich sage dann immer, in der Oper auf der Bühne während des Auftritts zu ’La Boheme’ oder ’Tosca’ könnt ihr ja auch nicht sitzen. Und das hilft. Sie müssen stehen. Sie können stehen und die Eltern staunen.

Die jungen Menschen möchten gefordert werden.“ Die Auftritte, nicht nur in der Oper, die Reisen und der Bekanntheitsgrad sind die Belohnung. Die Sänger sind stolz auf ihre Zugehörigkeit zum Chor. Sie bleiben ihm immer verbunden.

Ein Chor geht um die Welt

Zur Gründungszeit waren es hauptsächlich Schöneberger Kinder, die dem Chor angehörten. Inzwischen sind die unterschiedlichsten Nationalitäten vertreten. Der Chor ist weltoffen.

Er war auch immer politisch. In der Nachkriegszeit repräsentierte er die Stadt Berlin, Westberlin zur Zeit des Kalten Krieges. Nach dem Mauerfall wurden Kontakte zum Umland geknüpft und Patenschaften eingegangen. Dem Kammerchor Fürstenwalde sind sie eng verbunden. Er hat sich genau ein Jahr vor den Schöneberger Sängerknaben gegründet, am 12. 11. 1946.

Keine staatliche Förderung

Die Schöneberger Sängerknaben sind niemals staatlich subventioniert worden. Gleich nach der Gründung rief Gerhard Hellwig einen Förderverein ins Leben. Persönliche Einlagen und Sponsoren helfen bei der Finanzierung, ehrenamtliche Helfer unterstützen die Betreuung.

„Es sind Väter und Mütter der Sänger, aber auch Ehemalige, die dem Chor in seiner Arbeit helfen.“ Gerhard Hellwig betreibt den Chor seit 60 Jahren mit guter Organisation und Phantasie. Auch die offizielle Chorkleidung wird vom Verein gestellt und gepflegt. Dazu gehören nicht nur die klassischen kurzen schwarzen Hosen und die weißen Kniestrümpfe, sondern auch drei verschiedene Winter– und Wetterausstattungen.

Die Auftritte der Sängerknaben finden, unabhängig von den Temperaturen, oftmals im Freien statt. Regen oder Schnee schreckt die Kinder und Gerhard Hellwig nicht ab. „Wir haben keinen Schnupfen. Wir singen!”

Am 15. Januar 2011 verstarb Gerhard Hellwig im Alter von 85 Jahren.

Nützliche Informationen

Schöneberger Sängerknaben
Budapester Str. 43
030 2 616 187

Interessenten für den Chor sollten mindestens acht Jahre alt sein

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Schöneberger Sängerknaben in aller Welt

Rund 300 Konzertreisen in alle Welt hat der Chor inzwischen unternommen. Man hatte nicht nur Auftritte im europäischen Ausland, sondern auch in der Vereinigten Staaten, wo man beispielsweise an der Steuben-Parade in New York teilnahm oder bei US-Präsident Jimmy Carter im Weißen Haus musikalische Grüße aus Berlin überbrachte.

Mitwirkungen an zahlreichen Operninszenierungen, aber auch Auftritte mit Richard Clayderman oder den Scorpions gehören zu den Highlights der Chorgeschichte.

Das Buch zum Chor

„Zum fünfzigsten Jubiläum war es noch nicht soweit“, erzählt Gerhard Hellwig. „Aber jetzt zum sechzigsten ist es richtig – das Buch über die Schöneberger Sängerknaben.“

Viel Arbeit, Zeit, Herzblut und Geld hat die Herstellung des 166 Seiten starken Bandes gekostet. „Dieses Buch ist kein Roman und keine literarische Erzählung, aber auch kein Bildband oder Fotoalbum, es ist ein Erlebnisdokument…“, beschreibt Herausgeber Hellwig das Werk auf der letzten Seite ‚in eigener Sache’.

Das ‚Erlebnisdokument’ ist gleichermaßen Chorgeschichte, Berlingeschichte und ein Spiegelbild der Stadt nach dem Zweiten Weltkrieg bis heute.

Über 300 Bilder zeigen die Geschichten, bekannte Gesichter, vergangene Berliner Ansichten - ein ‚Zeitbild’, so der Untertitel des Buches. Nicht nur Freunde der Schöneberger Sängerknaben werden das Buch zur Hand nehmen. Historiker, Berlinkenner, Musikbegeisterte und Schöneberger finden spannende Fotos und wunderbare Zeitzeugnisse.

Zur Buchbestellung bitte auf das Bild klicken.

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