Reichsprogromnacht

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Das Progrom<bR>Ein Attentat in Paris

von Sven Felix Kellerhoff

Die Woche begann ruhig. In Paris war der 7. November 1938 ein durchschnittlich geschäftiger Montag im Herbst. Kurz vor halb zehn Uhr morgens ging ein junger Mann die vornehme, aber nicht pompöse Rue de Lille nahe dem Seine-Ufer entlang. Sein Ziel war das Haus mit der Nummer 78: das Palais Beauharnais, die Botschaft Deutschlands in Frankreich.

Doch der 17jährige Herschel Grynszpan aus Hannover hatte nicht vor, der diplomatischen Vertretung einen normalen Besuch abzustatten. In seiner Manteltasche verbarg er einen geladenen Revolver, den er gerade eine Stunde zuvor gekauft hatte. Grynszpan trieb der feste Vorsatz, an diesem Vormittag ein Zeichen zu setzen, das weltweit Aufmerksamkeit erregen würde. Mit der Ruhe sollte es schon wenige Minuten später vorbei sein.

Wenige Meter vor dem stattlichen Palais kreuzte ein eleganter Herr Ende Fünfzig den Weg des jungen Mannes. Grynszpan fragte ihn, wie man am besten den Botschafter erreichen könne, und der Herr empfahl ihm, sich doch an den Pförtner zu wenden. Diese Auskunft rettete Johannes Graf Welczek wahrscheinlich das Leben, denn er selbst war der höchste deutsche Diplomat in Paris. Dem Rat folgend sprach Grynszpan die Concierge an. Er müsse dem Botschafter wichtige Papiere übergeben – und zwar »persönlich«, wie er mehrfach und eindringlich wiederholte. Doch Welczek, der inzwischen nach seinem üblichen Morgenspaziergang in seine Wohnung in der Botschaft zurückgekehrt war, wollte von dem Besucher nichts wissen; er ließ ihn an einen der jüngeren Botschaftssekretäre ver­weisen.

Weil der eigentlich für Besucherverkehr zuständige Attaché noch nicht zum Dienst erschienen war, führte ein Amtsgehilfe Grynszpan ins Büro des Legationssekretärs Ernst vom Rath.

Was in den folgenden Sekunden geschah, konnte nie genau geklärt werden. Fragte der Diplomat zuerst höflich nach dem Begehr seines Besuchers? Oder zog Grynszpan mit den Worten »Im Namen von 12.000 Juden übergebe ich hiermit die Dokumente« sofort seinen Revolver und drückte ab?

Sicher ist: Keine halbe Minute hielt sich der junge Mann in dem Raum auf. In dieser Zeit schoss er aus etwa zwei Metern Entfernung fünfmal auf vom Rath, verfehlte dreimal, traf aber eben doch zweimal und verletzte ihn schwer.

Es war etwa 9.35 Uhr. Im wenig später nach Berlin durchgegebenen ersten Bericht hieß es: »Nachdem der Amtsgehilfe das Zimmer verlassen hatte, erfolgte eine Detonation. Als der Amtsgehilfe hinauseilte, flüchtete der soeben gemeldete Fremde. Als der Amtsgehilfe sah, dass Legationssekretär vom Rath blutend auf der Erde lag, alarmierte er die vor der Botschaft stehende Polizei, die den Täter festnahm und dem Polizeikommissariat zur Vernehmung zuführte.«

Ernst vom Rath wurde sofort ins Krankenhaus gebracht, wo ihm die zerfetzte Milz herausgenommen werden musste. Unterdessen begann die französische Kriminalpolizei, den festgenommenen Attentäter zu vernehmen.

Grynszpan gestand und gab als Motiv an, er habe sich rächen wollen für die Verbrechen, die das NS-Regime an den Juden begehe, besonders an den polnischen Juden, die Ende Oktober 1938 aus Deutschland ausgewiesen und an die polnische Grenze deportiert worden waren.

Als sein Vorbild nannte er die Tat von David Frankfurter. Der junge, aus Deutschland emigrierte Jude hatte 1936 in Davos Wilhelm Gustloff erschossen, den »Führer« der kleinen NSDAP-»Landesgruppe Schweiz«.

Kaum drang die erste Information über die Hintergründe des Attentats nach Berlin, reagierten die Nationalsozialisten: Hitler schickte umgehend seinen Begleitarzt Karl Brandt und den Münchner Chirurgen Professor Georg Magnus nach Paris, und Propagandaminister Joseph Goebbels gab sofort an alle Redaktionen klare Anweisungen: »Alle deutschen Zeitungen müssen in größter Form über das Attentat (…) berichten. Die Nachricht muss die erste Seite voll beherrschen. (…) In eigenen Kommentaren ist darauf hinzuweisen, dass das Attentat des Juden die schwersten Folgen für die Juden in Deutschland haben muss, und zwar auch für die ausländischen Juden in Deutschland. In Ausdrücken, die der Empörung des deutschen Volkes entsprechen, kann festgestellt werden, dass die jüdische Emigranten-Clique, die schon Frankfurter den Revolver in die Hand drückte, auch verantwortlich für dieses Verbrechen sei.« Die Verzweiflungstat Grynzspans wurde so zum »Beweis« für die angebliche »jüdische Weltverschwörung«. Noch am selben Abend kam es zu ersten Ausschreitungen gegen Juden, zum Beispiel in Kassel, wo eine Synagoge geschändet, ein jüdisches Cafe beschädigt und etwa zwanzig Geschäfte verwüstet wurden. Während die Gestapo von einer Zusammenrottung von rund tausend Personen ausging, sagten Augenzeugen nach 1945, dass etwa 30 Männer die Täter gewesen seien – »alle mit den gleichen Stiefeln«. In Berlin gab es an diesem Abend wohl noch keine Übergriffe.

Goebbels’ Presseanweisung wurde umgehend umgesetzt, wie am 8. November 1938 in zahlreichen Zeitungen in ganz Deutschland nachzulesen war. Das Parteiorgan »Völkischer Beobachter« etwa titelte: »Jüdischer Mordanschlag in Paris. Mitglied der deutschen Botschaft durch Schüsse lebensgefährlich verletzt. Der Mordbube ein 17-jähriger Jude. Der Zustand des Verletzten sehr ernst.« Das Blatt, das in der Zimmerstraße 90/91 am Rande des Berliner Zeitungsviertels redigiert wurde, kommentierte selbstverständlich ganz auf Goebbels’ Linie: »Es ist klar, dass das deutsche Volk aus dieser neuen Tat seine Folgerungen ziehen wird.«

Dieser und ähnliche offene Aufrufe zur Gewalt hatten direkte Folgen. In zahlreichen Kommunen in Deutschland ließen örtliche NSDAP-Funktionäre die längst entrechteten und damit schutzlosen Juden angreifen. Vom »Volkszorn« konnte in den Abendstunden des 8. November dennoch nicht die Rede sein: Wie schon in der vorangegangenen Nacht waren es wieder vor allem SA-Männer und Mitglieder anderer NS-Parteiorganisationen, darunter auch Hitler-Jungs, die willkürlich jüdisches Eigentum und auch Juden direkt attackierten.

Am nächsten Tag notierte Ruth Andreas-Friedrich, eine innerlich skeptisch gebliebene Journalistin, über die Reaktion der Berliner in ihr Tagebuch: »Im Omnibus, auf der Straße, in Geschäften und Kaffeehäusern wird der Fall Grynszpan laut und leise diskutiert. Nirgends merke ich antisemitische Entrüstung, wohl aber eine drückende Beklommenheit, wie vor dem Ausbruch eines Gewitters.« Zugleich hielt sie fest, dass die verbliebenen jüdischen Geschäfte am Kurfürstendamm, auf dem Tauentzien und der Leipziger Straße »auffallend leer« seien: »Man wagt sich mal wieder nicht… Man hat Angst, sich unbeliebt zu machen. Zu oft stand im ›Stürmer‹ zu lesen: ›Kauft nicht bei Juden!‹« Ähnliches spürte auch der Berlin-Korrespondent der Londoner »Times«; er berichtete: »Die noch im Dritten Reich verbliebenen 400.000 Juden erwarten heute Nacht in Furcht und Angst einen erneuten Angriff auf ihre Rasse, der, sofern der Ton der amtlich gelenkten Presse als Anzeichen gewertet werden kann, an Gewalttätigkeit und Rohheit jeden während der vergangenen fünf Jahre stattgefundenen übertreffen wird.«

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<b>Der Autor:<br>Sven Felix Kellerhof</b>

Der Autor Sven Felix Kellerhoff ist Journalist und Autor. Heute ist er Leitender Redakteur für Zeit- und Kulturgeschichte bei der WELT und der Berliner Morgenpost.
Nach einem Studium der Neueren und Alten Geschichte, Medienrecht und Publizistik besuchte er die Berliner Journalistenschule.
Seit 1993 arbeitet er als Journalist. Ihn interessieren überwiegend historische Themen. Er schrieb unter anderem für die Berliner Zeitung, die Kölnische Rundschau, die Badische Zeitung Freiburg und den Bayerischen Rundfunk.

Seit 1997 schreibt Kellerhoff für den Axel Springer Verlag. Kellerhoff ist darüber hinaus Autor verschiedener zeithistorischer Sachbücher, unter anderem über den Führerbunker und die Geschichte des politischen Attentats. Seit 2004 verlagerte er den Schwerpunkt seiner geschichtsjournalistischen Arbeit von der NS-Vergangenheit auf die deutsch- deutsche Vergangenheit. Im Berlin Story Verlag erschienen unter anderem die Werke: "Ortstermin Mitte - Auf Spurensuche in Berlins Innenstadt" und "Mythos Führerbunker".

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